Oktoberfest München Reisebericht von Beatrice Sonntag
Es waren einmal zehn Amerikaner, die nach München aufs Oktoberfest fahren wollten. Daran fand ich nichts ungewöhnliches, denn in meinen Augen war das Oktoberfest eine bayrische Tradition, die zu einer Sehenswürdigkeit für Amerikaner und Japaner geworden war. Ich wollte nichts damit zu tun haben und wünschte den Amerikanern viel Spaß.
Die Vorbereitungen waren in vollem Gange, als einem der Amerikaner die Hochzeit seiner Schwester dazwischen kam und er abspringen musste. Da waren’s nur noch neun. Kein Problem. In den nächsten Wochen und Tagen sagten dann aber immer mehr unter Anbringung von fadenscheinigen Ausreden ab, so dass am Ende nur noch ein einziger Amerikaner übrig blieb. Dieser hatte in München schon eine Wohnung gemietet, wochenlang nur Weizenbier getrunken, um sich auf München vorzubereiten und sich ernsthaft und beinahe wissenschaftlich mit dem Thema bayrischer Trachten auseinandergesetzt. Außerdem hatte er sich so sehr auf den Ausflug gefreut. Und irgendwie hat er es dann geschafft, mich in quasi letzter Minute dazu zu überreden, als Ersatzmann einzuspringen. Wer mich kennt, kann ahnen, dass dies ein Akt der Verzweiflung gewesen sein muss, denn ich bin der wohl denkbar schlechteste Kandidat für eine Tour, die sich hauptsächlich um bayrische Traditionen und Weizenbier dreht. Ich trinke im Durchschnitt pro Jahr etwa vier Gläser Bier (und wenn dann kein Weizenbier und schon gar nicht aus Ein-Liter-Krügen!) und Bayern ist mir höchst suspekt, weil ich Dirndl im Grunde lächerlich finde und Edmund Stoiber spätestens seit seiner Rede über den Problembär für einen Komiker halte. Schon die Tatsache, dass mich jemand am frühen Morgen mit den Worten „Grüß Gott“ begrüßt, verursacht mir als Atheistin Magenschmerzen.
Soviel nur, um Euch zu berichten, dass es eine Verkettung widriger Umstände war, die mich dazu brachte, nach München aufs Oktoberfest zu fahren. Ich sah das ganze Unterfangen nun als eine Art Studienreise in eine mir wirklich unbekannte Welt an, dachte an die drei einzigen Bayern, die ich mochte: Matthias, der nach Venezuela ausgewandert war, Meister Eder und Pumuckl. Und in den wenigen Tagen, die mir nun blieben, um über den Irrsinn des Unternehmens nachzudenken, stellte sich eine morbide Neugierde sowie fast so etwas wie Vorfreude ein.
Die Hinfahrt gestaltete sich etwas höchst unangenehm, denn der ICE zwischen Frankfurt und München war bis auf den letzten Quadratzentimeter gefüllt. Wir saßen also auf dem Boden des Zuges, Brian mit einem Weizenbier in der Hand und glückselig, ich mit George Orwells Roman 1984, um mich schon ein wenig in Endzeitstimmung zu bringen.
Endlich in München angekommen, bezogen wir unser Apartment, freuten uns über das überraschend gute Wetter für die Jahreszeit und machten uns dann auf den Weg zur Theresienwiese – zunächst in unauffälligen Zivilklamotten, um das Gelände zu sondieren. Auf dem Weg zur U-Bahnstation kamen wir an einem Geschäft vorbei, in dessen Schaufenster Waffen aller Größen und Formen ausgestellt waren. Das eigentlich befremdliche an den Vitrinen war jedoch, dass zwischen den Pistolen, Armbrüsten und Gewehren Dutzende von lustigen bunten Eulen aus Pappe und Stoff verteilt waren, ganz so, als handele es sich bei der Zielgruppe des Ladens um Vier- bis Siebenjährige. Ich war in meinem Vorurteil bestärkt: Bayern ist seltsam.
Auf dem Weg vom Ostbahnhof zur Theresienwiese begegneten wir nur etwa vier Menschen, die sich bereits dem Alkohol geschlagen gegeben hatten und irgendwo am Straßenrand ihrem komaähnlichen Zustand frönten. Mein erster Eindruck vom Festgelände der Theresienwiese war: Ich bin auf einem riesigen Süßigkeiten-Festival gelandet. Zwischen den verschiedenen meist sehr abenteuerlich anmutenden Karussells und Fahrgeschäften boten Dutzende von Verkaufsständen Tonnen von Süßkram an. Es gab nicht nur die berüchtigten Lebkuchenherzen mit fragwürdigen Liebesbotschaften, sondern auch Crêpes, Dampfnudeln, Magenbrot, Zuckerwatte, Kaiserschmarrn, überlebensgroße Lutscher, mit Schokolade überzogene Früchte und eigentlich alles, in dem genug Zucker drin ist, um ein friedliches Kleinkind in ein Monster zu verwandeln. Ich begann, mich hier wohlzufühlen.
Wir kauften also ein paar Kilo Zucker in verschiedenen Formen für mich und eine 50cm lange Bratwurst sowie Weizenbier für Brian, der sich damit ebenfalls wie im Himmel fühlte. Da wir erst recht spät am Abend eingetroffen waren, waren die Bierzelte bereits im Begriff zu schließen und die Betrunkenen vor die Tür zu setzen. Unter den Gestalten, die die Zelte als letzte verließen, waren nicht wenige, die ihre Kenntnisse der eigenen Muttersprache schon komplett eingebüßt hatten und einige weitere, deren Gliedmaßen ihnen nicht mehr gehorchten. Wir hatten zwar den traditionellen Einzug der Wies‘nwirte verpasst, aber den Auszug der Alkoholleichen konnten wir in vollen Zügen genießen.
Am nächsten Tag war zunächst einmal der Programmpunkt ‚Sightseeing in München‘ dran, den ich nachträglich ins Programm eingefügt hatte. Wir starrten zusammen mit einer gefühlten halben Million japansicher und amerikanischer Touristen auf das Schauspiel beziehungsweise Glockenspiel der Turmuhr des neuen Rathauses, betrachteten die Frauenkirche, das alte Rathaus und zahlreiche weitere historische Gebäude in der Innenstadt. Zu guter Letzt machten wir noch einen Abstecher zum weltberühmten Hofbräuhaus. Vor allem das Interieur des letzteren bestärkte mich in meinem Glauben, dass der bayrische Kulturkreis mit Lederhosen und Blechbläsern einfach „nicht mein Ding“ ist.
Dann stand Shopping auf dem Programm. Mit einer mir vollkommen unverständlichen Begeisterung und Hingabe suchte sich Brian zielsicher eine qualitativ hochwertige Lederhose, ein reich verziertes Trachtenhemd und eine wollene ärmellose Weste sowie passende Socken und einen Hut aus, so dass er am Ende kaum noch von einem richtigen Bayer zu unterscheiden war. Einzig sein breites Grinsen und die Basketballschuhe (seine Liebe zur bayrischen Kultur geht nicht so weit, dass er 200 Euro für Schuhe ausgibt, in denen er nicht laufen kann) verraten ihn und entlarven ihn als Tourist. Immerhin kostete sein perfektes Outfit etwa 350 Euro. Ich bin nicht bereit, derartige Zugeständnisse an die bayrischen Trachten zu machen und entscheide mich für ein minderwertiges schwarzes Dirndl für 20 Euro. Beim Anblick der karierten und rosafarbenen Ungetüme dreht sich mir der Magen um und ich bräuchte einen sechsfachen Push-up-BH, damit diese Kleider an mir auch nur halbwegs authentisch wirkten. Wie auch immer. Wir waren ausgerüstet.
Irgendwann am Nachmittag liefen wir also in voller Montur auf dem Festgelände auf und stürzten uns ins Gedränge. Ein paar Bier und Süßigkeiten sowie das Vorhandensein von hunderten von richtig ulkigen Fotomotiven brachten uns bald in eine gute Stimmung. Als die Sonne langsam Richtung Horizont wanderte und mir in meinem albernen Kostüm etwas kühl wurde, stellte sich die Frage, wie wir denn in eines dieser legendären Bierzelte hinein kämen. Zwar gibt es 14 große Zelte mit sechs bis achttausend Sitzplätzen und noch einige kleinere Bierzelte auf der Wies’n, aber die Schlangen vor den Eingängen waren erschreckend lang. Wir mussten also auf eine andere Strategie zurückgreifen. Das Zauberwort heißt Korruption. Mit Fingerspitzengefühl, ein paar freundlichen Worten und einem angemessenen Bestechungsgeld gelang es uns schon nach etwa einer Stunde einen Kellner zu korrumpieren, der uns trotz nicht vorhandener Platzreservierung in eines der Zelte hinein schleuste. Ich fühlte mich fast wie in Madagaskar oder Venezuela, als ich an den frustriert wartenden Mengen wie ein VIP vorbei geführt werde – und zwar auf dem Weg, auf dem die Alkoholleichen in kleinen eigens zu diesem Zweck gebauten orangeroten Wägelchen evakuiert werden.
Drinnen im Zelt herrscht tatsächlich eine unglaubliche Stimmung. Selbst wenn es hier nicht tropisch warm gewesen wäre, hätte ich die Kälte augenblicklich vergessen. Überall wurde hier etwas geboten: An einer Wand rotierten mindestens 400 tote Hähnchen, die halbiert und dann jeweils für 16 Euro an ausgehungerte Betrunkene verkauft werden. Kellnerinnen mit riesigen Brüsten demonstrieren ihre Gewichtheberfähigkeiten, indem sie ein Dutzend oder mehr Maßkrüge transportieren. Das Security-Personal führt auf eindrucksvolle Weise mit einem entsprechenden Show-Effekt Delinquenten ab und verweist sie des Zeltes. Unter diesen Delinquenten sind hauptsächlich gewaltbereite angetrunkene junge Männer und verzweifelte junge Damen, die sich illegalerweise an der Herrentoilette angestellt haben. Brian kommt vollkommen begeistert von einem Toilettenbesuch zurück und berichtet davon, dass dort jemand in voller Montur auf dem Fußboden verendet ist. Die Musik ist nicht ganz so schlimm, wie ich sie mir in meinen Horrorvorstellungen ausgemalt hatte. Auch der Verweis darauf, dass dieses spezielle Zelt eine eigene Jodlerin engagiert hat, hatte mir etwas Angst gemacht. Aber die Band spielte nur den üblichen Radio-Mist. Natürlich sangen alle lauthals mit. Ein Holländer erzählte mir unaufgefordert, dass seine Frau ihn mit anderen Frauen betrügt und der Mann, der neben mir auf der Bank saß, zog nach einer Weile seinen Pullover aus, unter dem ein hellrotes Spitzenkorsett zum Vorschein kam. Mir gegenüber saß eine junge Dame, deren Brüste so gigantisch waren und von ihrem Dirndl auch noch dermaßen in Szene gesetzt wurden, dass kaum jemand den Blick abwenden konnte. Ich machte ihr eines der weniger anzüglichen Komplimente. Mein amerikanischer Begleiter und ich waren uns einig, dass Frauen wie sie der Grund dafür gewesen sein müssen, dass das Dirndl erfunden wurde. Die Atmosphäre war im Grunde phantastisch. Ich muss zugeben, dass ich mich bestens amüsiert habe, auch wenn ich das niemals für möglich gehalten hätte.
Eure Beatrice!
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